Altenau, 15.5.2022 Laudatio/ Paul Böckelmann

Sehr geehrte Schaulustige, sehr geehrtes Publikum, sehr geehrte Kunstliebende, diese Anrede erspart mir alle Gendersternchen, 2022 feiert unsere Galerie das Jahr der Frauen. E.R.N.A. hat sich mit dieser Ausstellungen einen großen Wunsch erfüllt: Einer gemeinsamen Ausstellung mit einer von ihr sehr geschätzten Künstlerin, der Zeichnerin Elke Hopfe.

Und dass ich die Laudatio halte, erfüllt einen weiteren.


Die Schiefertafel

Papier war in unserer Familie rar. Aber die Schiefertafel meiner Mutter, auf der sie in den enddreißiger Jahren das ABC, noch in Sütterlin, schreiben lernte und die wunderbarer Weise erhalten geblieben war, fiel mir in die Hände. Sie war in etwa A4 groß, ein hölzerner Rahmen schützte sie vorm Zerbrechen. Auf dieser Tafel zeichnete ich unentwegt. Vor allem Gesichter von Indianern. Kantige Kerle, mit Hakennasen, Pfeife und Federn durften nie fehlen. Mal Frontal, en Face, oft im Profil. Der Tomahawk wurde für eine gerechte Sache geschwungen. Colts gehörten in die Hände böser Cowboys. Indianer waren in meinem Kinderdenken edle Naturmenschen, heilige Krieger für’s Gute. Das Wissen über die Geschichte oder der Lebens-Realität indigener Völker, der People of Color, hatte in dieser, meiner Kindervergangenheit weder Raum in meiner Vorstellung, noch fand sich das im Denken der Erwachsenen, die mein Lebensumfeld beherrschten. Ich zeichnete Gedachtes, Gehofftes, Gewünschtes, ich zeichnete mein Bild von einer Welt, das mitgeteilt werden mußte. Kindlicher Instinkt führte in ein Wahrnehmen der nicht auf den ersten Blick erfassbaren Wirklichkeit der unter der Haut der Realität verborgenen miteinander ringenden Kräfte, die der menschlichen Natur eingeschrieben sind. Das Unbewußte regierte, führte die Kinderhand. Ungelenke Griffelspuren suchten das Abbild einer unsichtbaren Welt wiederzugeben, die nicht erlebt, aber geträumt werden konnte.

Ein Schwamm machte Platz für eine weitere Zeichnung. Jede neue Zeichnung muss schöner und besser als die vorhergehende gewesen sein. Keine dieser kindlichen Krakeleien ist als Beweis erhalten geblieben. Aber in der Erinnerung sind all die von der Schiefertafel getilgten Bilder zu einer vielschichtigen Erzählung geronnen, die gegenwärtig lebendigen Atem in die Zukunft trägt: Hoffnung angesichts einer tobenden Welt. Tomahawk und Colt können abgelegt werden, eine Friedenspfeife bindet unsere Zweifel, eine friedliche Welt bleibt Wunsch und einziges Ziel. Zeichnungen setzen Zeichen, künden vom Eigenen, spiegeln das Innere, reflektieren das Gegenüber. Ansonsten hätte alles menschliche Tun, auch die Kunst des Zeichnens keinen Sinn.

Sie werden sich vielleicht fragen, wovon redet der da vorn. Ganz einfach. Angesichts der hier versammelten Zeichnungen von Elke Hopfe, über deren Person und ihre Arbeiten kluge Leute viel Wahres über das Menschenbild der Zeichnerin, über ihre Antriebe und ihr künstlerisches Wollen gedacht und aufgeschrieben haben, versuche ich darüber zu sprechen, wie die Zeichnungen auf mich wirken, was sie auslösen, wie sich Schicht um Schicht, obwohl mit den Augen nicht wahrzunehmen - da eine Zeichnung ja ein zweidimensionales Gebilde sei - ins Denken bohren, sie bloßlegen oder dem inneren Auge etwas sichtbar machen. Ob kindliches Krakeln oder professionelles künstlerisches Handwerk, jeweiliges Wissen führt die Hand, du siehst, was du denkst, das verbindet Künstler und Betrachter. Die Existenz des Zeichnenden findet im Gegenüber, im Anderen alle Höhen und Tiefen erlebter und erlittener Gefühle, seinen Spiegel. Nicht dem Abbild, dem Sinnbild gilt die Suche. 

Als ich E.R.N.A. den Textentwurf über die Schiefertafel zeigte, warnte sie mich, nicht auch noch durch die Beschreibung kindlicher Knetereien zu versuchen, ihre keramischen Skulpturen fassbar zu deuten. Das liegt mir fern, so wie Kneten nie eine meiner Leidenschaften war. Aber was ich zum Ausdruck bringen kann, ist die Bewunderung, die ich ihrer Arbeit mit dem Ton entgegenbringen muss. Staunen, wenn diese weiche, in jede Form zu bringende Erde durch Geduld und Wille, Form gewinnt. Im Gegensatz zur zweidimensionalen Zeichnung von Elke Hopfe, in der Spuren des Arbeitsprozesses belassen, integraler Bestandteil der fertigen Arbeit sind und letztendlich Sprache und Aussage des Bildes mitbestimmen, fordert und zwingt der Ton, den letzten Zustand zuzulassen. Vorausgehende Formzustände sind auf immer getilgt. Das aufbauende Gerüst zur Sicherung der Stabilität trägt die Form der Skulptur und findet doch keine Beachtung. Einzig das Äußere, die Haut, behandelt mit Glasuren und farbigen Erden, Träger von geritzten Zeichnungen findet Beachtung, wird betrachtet, ist der Botschafter des Ideellen. Im Gegensatz zu den raumgreifenden Skulpturen nähern sich die Schilde der zweidimensionalen Zeichnung. Vorder- und Rückseite müssen mit der spiegelverkehrten Form ihre solitäre Zeichnung gewinnen.

Sehr geehrte Bildliebende, zwei Künstlerinnen, deren Arbeiten scheinbar nicht unterschiedlicher in Material und Bildsprache sein könnten, vereint in dieser Ausstellung ihr Wille zur Deutung der Welt, der Widerspiegelung menschlicher Realität, nicht durch das Abbild, sondern durch ihre künstlerische Seh- und Deutungsweise. Ihnen ist nichts menschliches fremd und so ist ihre Arbeit der Versuch und Ausdruck der Hoffnung, das Fremdsein zu überwinden. Was für mich beider Arbeiten auszeichnet, ist die Fähigkeit, in einem konkreten Moment des Arbeitens die Vibrationen der Gegenwart einzufangen. Plötzlich bestätigt die über uns hereinbrechende gewalttätige Realität die Ahnungen, die in den Zeichnungen und Skulpturen beider Künstlerinnen eingeschrieben sind. Gewissheiten zerrinnen unterm Bombenhagel unerwarteter Kriege. Festgelegte Haltungen verlieren ihren Halt. Es ist, doch, es kann sein, was nicht sein kann! Dieses Zuschlagen, das Eindreschen auf unseren bräsigen Alltag durch  eine unerbittliche Realität, das zu dokumentieren, das lese ich in den Arbeiten dieser Künstlerinnen. Mit der Schärfe des spitzen Bleistifts, eher ein Sezier-Stift, der messerscharf den Raum herausschneidet, das Menschenbild in den Orbit des organisierten Zeichenblattes bannt, das Individuum als beispielhaftes, stellvertretendes Subjekt präsentiert oder mit dem scharfen Stahl der Werkzeuge für die Tonbearbeitung, die Empathie gemildert durch Schmerz aus dem Material gräbt, fügen die Künstlerinnen ihre Spuren in die Gegenwart. Leuchtet da nicht das alte Ecce Homo Motiv auf? Das Antlitz des Menschen, gebeutelt, scheinbar hilflos ausgeliefert, oft der Hoffnungslosigkeit ausgeliefert, so scheint in den Arbeiten der Künstlerinnen doch letztendlich immer das Humane die Oberhand zu gewinnen. Die Empathie mit dem Mitmenschen trägt ins Überleben, rettet das Gewissen, die Gewissheit, dass… ja was?

Ein paar Worte möchte ich noch über die Musikerin der heutigen Ausstellungseröffnung sagen.  Wir bekamen unerwartet einen Tag vor der Ausstellungseröffnung eine Absage. Uns rettete Jonas Gallin, ein Musiker aus der Region. Er war ein exzellenter Einspringer und wir hoffen mit ihm und seinen Freunden weitere Auftritte in der Galerie veranstalten zu können.