Paul Böckelmann

Ausstellung 2007 Mai

8. Ausstellung 2007

"Lavaters Enkel"

Gesichtsbilder - Zeitbilder

Rede von Petra Brunk, Psychologin, Falkenberg, gehalten zur Eröffnung der Ausstellung
„Lavaters Enkel“ Digitale Collagen von Paul Böckelmann am 6. Mai 2007

Lavaters Enkel

Die Zusage für die Laudatio zur Ausstellung von Paul Böckelmann machte ich, weil ich Bitten meistens erfülle.
Das Thema fand ich interessant, zumal sich seit einiger Zeit tatsächlich verstärkt Enkel Lavaters im Deuten der Physiognomie, der Körperhaltung, der Stimme, der Sprache von Menschen versuchen.
Ich jammere nicht, wie viel Arbeit auf mich zukam; es war höchst stimulierend und vergnüglich, Gewusstes wieder zu aktivieren, zu bejahen, in Frage zu stellen, auf die Kunstwerke von Paul Böckelmann zu übertragen.
Für mich hat Paul Böckelmann tolle provozierende, fragende, suchende Kunst gernacht - obwohl sogar Pablo Picasso irritiert aufwartete, was Kunst ist: „Wenn ich das wüsste, würde ich es für mich behalten."
Vielleicht helfe ich Ihnen mit meiner Laudatio, die Bilder später kritischer, intensiver - einfacher? wahrzunehmen.
Ich werde nun nicht die stundenlange Vorlesung über ein Thema halten, welches vielen von Ihnen zumindest in Fragmenten bekannt ist. Doch ein paar Ausführungen darüber müssen Sie mir gestatten. Lavater war mir bislang nicht bekannt- und das ist nicht schlimm; man begibt sich mit ihm auf unsicheres Eis.

Johann Caspar Lavater lebte von 1741-1801. Er war ein reformierter Pfarrer, Philosoph und Schriftsteller aus der Schweiz. In seinem geistlichen Stand nahm er frühzeitig eine asketisch-mystische Haltung ein. U.a. versuchte er,
Moses Mendelssohn zum Übertritt in das Christentum zu bewegen.
1774 lernte er auf einer Reise Goethe kennen - mit diesem sowie mit Georg Christoph Lichtenberg gab es zunehmend Auseinandersetzungen um Lavaters Ansichten zur Physiognomik. Das 18.Jahrhundert war das Zeitalter der Aufklärung. Dem Geheimwissen der Hermetik sowie der Viersäftelehre Galens stand man zunehmend skeptisch gegenüber.
Lavater folgte dennoch seinem Weg. Er wurde trotz der Aufklärung mit seinem Werk „Physiognomische Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe" berühmt. Er legte ein riesiges Bildarchiv u.a. mit Silhouetten berühmter Persönlichkeiten u.a. Mitbürger an; er beschreibt darin die einzelnen Physiognomien, die er als „Buchstaben des göttlichen Alphabets" verstand. Das entsprach der damaligen Überzeugung, dass die Natur und die Welt so lesbar sein müssten wie die künstlichen Zeichen in Büchern. Trotz der Kritik von Goethe und Lichtenstein, die sich von Lavater distanzierten und eine alternative Theorie der Pathognomik vertraten, hatte dieser einen großen Erfolg: es wurde damals für einige Jahre Mode, sich in Gesellschaft seine Silhouette zeichnen zu lassen und diese dann zu deuten.
Goethe hingegen vertrat die Auffassung, dass die Seele sich nur im Äußeren ablesen lasse, wenn Krankheit oder Schicksal Spuren auf dem Körper eines Menschen hinterlassen haben - mittlerweile eine gesicherte Ansicht der Wissenschaft. Lichtenstein schrieb etliche Polemiken sowie Satiren gegen Lavaters „physiognomische Raserei".

Lichtenberg äußert sich folgendermaßen zu Lavater- (und hier zitiere ich aus seinen Schriften):
„Das ist 'n Buch, wie mir in meiner Praxis noch keines vorgekommen ist. Was da für Gesichter darin stehen! Groß und klein! Ehrenfest und ehrenlos! Sauer und süß! Schief und krumm! U.s.w.!
Soviel ich verstanden habe, sieht Herr Lavater den Kopf eines Menschen und sonderlich das Gesicht als eine Tafel an, darauf die Natur ihre Sprache geschrieben hat... allhier logieret ein hochtrabender Geselle! ein Pinsel! Ein unruhiger Gast! Ein Poet!...
Es wäre sehr naiv von der Natur, wenn sie so jedwedem Menschen seine Kundschaft an die Nase gehängt hätte ...darum schämen sich auch einige Leute wohl so, schlagen die Augen nieder, und mögen einen nicht grade ansehen.
...Schnürt diese Lehre nicht der Freiheit des Menschen den Hals zu?" Die Antwort darauf: „Ein Mensch ist kein Schurke, wenn er ein großes Maul hat, sondern wenn er 'n Schurke ist, hat er `n großes Maul...".

Ich nutze nun meine Professionalität zu einer kurzen Beschreibung der Physiognomie aus heutiger Sicht.

Als Physiognomie bezeichnet man die äußere Erscheinung eines Menschen, speziell die für einen Menschen charakteristischen Gesichtszüge.

Sie glauben wahrscheinlich, dass aus der Physiognomie etwas über die Seele eines Menschen zu erfahren ist.

Die Physiognomik macht den Versuch, methodisch aus der körperlichen Erscheinung eines Menschen zu lesen.

Die Tradition dieser Pseudowissenschaft geht bis in die Antike zurück. Historisch wurde immer wieder versucht,

an bestimmten Rassen oder sozialen Gruppen physiognomische Merkmale festzustellen, die diese von allen anderen absondern sollen. Mit tödlichen Konsequenzen versuchte in unserer jüngeren Geschichte die Rassenkunde des Nationalsozialismus Erkennungsmerkmale jüdischer Gesichter festzuschreiben.

Auch deshalb ist in der Gegenwart die Physiognomik als Wissenschaft völlig diskreditiert.

Lediglich in der Esoterik zirkuliert sie weiterhin als „Geheimwissen".


Überwiegend wird der Physiognomik vorgeworfen, dass ihr mit wissenschaftlicher Methodik keine Gültigkeit nachzuweisen sei. Und sie trägt auch meiner Erfahrung nach eher zur Bildung von Vorurteilen bei denn zur tatsächlichen Menschkenntnis.
Neben der Psychologie und der Philosophie findet die Beschäftigung mit der Physiognomie auch in der Kunst und Literatur ihren Niederschlag- erleben Sie es über die kreativen Äußerungen von Paul Böckelmann zum Thema.
Porträts sollen individuelle Gesichtszüge festhalten und bewahren diese für die Nachwelt - wer unterliegt nicht der Versuchung, aus solchen Porträts Rückschlüsse ziehen zu wollen?
In der Kriminalistik und im Recht wird schon seit dem Mittelalter versucht, die Unverwechselbarkeit der individuellen Physiognomie zu vermerken. Das führt in unserer computergestützten Zeit zu dem umstrittenen Versuch,
in Menschenmengen einzelne Gesichter zu erkennen.
Für mich ist die Auseinandersetzung mit diesem Thema eine Möglichkeit, mich in meiner Haltung zu hinterfragen und mich mit neuen Aspekten zu beschäftigen, auf jeden Fall neugierig, aber vorurteilsfrei mein Gegenüber zu betrachten.

Lavaters Enkel - will das jemand sein???
Lieber Paul, Du bist viel zu klug, als dass ich Dir nicht doch ein paar Fragen stelle,
die Du uns vielleicht mit Deiner Kunst beantworten willst.
Als erstes fällt mir da etwas Kognitives ein: machst Du es wie das lesenlernende Kind,
das vom ganzen Wort zur Analyse (dem einzelnen Buchstaben) und wieder zur Synthese kommt?

Oder ist es das Kind im Mann - der Spieltrieb, der Dich dazu gebracht hat, Dinge zu verändern, anders zu nutzen?

Willst Du uns vielleicht einen Spiegel vorhalten?

Eröffne also Deine Ausstellung und führe den Dialog mit uns- ich hoffe, es wird ein vergnüglicher, unterhaltender Dialog und Nachmittag.

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